Freiräume im Herbst

Nachricht Verden, 12. November 2019

Gedanken von Landesbischof Meister

 

Manche Freiräume sind an die Jahreszeit gebunden. Und einer der schönsten Freiräume entsteht für mich im Herbst. Dabei geht es nicht um eine freie Zeit oder herbstliche Urlaubstage in milden Regionen. Es geht um wenige Minuten, die mich jedes Jahr in Sehnsuchts- und Traumwelten entführen.
In vielen Regionen in Norddeutschland sammeln sich in der zweiten Oktoberhälfte hunderttausende von Zugvögeln. Kraniche und Gänse ziehen abends von ihren Futterplätzen heran und sammeln Kräfte für die weite Reise in den Süden. Aus Skandinavien, dem Baltikum und Sibirien sind sie gekommen, um weiter nach Südspanien oder Afrika zu ziehen. Arktisgänse überwintern zu Tausenden am Niederrhein. Manche haben den Sommer in unserer Region in Niedersachsen verbracht und machen sich nun auf die Reise. Für mich sind solche Vogelzüge kleine Herbstfreiräume. Immer wenn ich die Formationen am Himmel höre, gehen meine Augen suchend nach oben. Die kräftigen und langsamen Flügelschläge werden die Tiere über viele Ländergrenzen durch den Kontinent tragen. Manche Tagesetappe kann bis zu 1000 Kilometer lang sein.
Am schönsten ist dieses Schauspiel nachts. Denn auch in mondhellen Nächten fliegen die Vögel. Sie orientieren sich an Flussläufen und anderen Landschaftsmarken. Die trompetenden Schreie der Kraniche oder die knarrenden Rufe der Gänse locken mich dann aus dem Bett. Es scheint als höre man das Rauschen des Windes zwischen ihren Flügelfedern. Dann stehe ich auf dem Balkon und schaue am schwarzblauen Himmel den Keil der Vögel. Schon nach wenigen Minuten ist das graue Geschwader aus der Sicht- und Rufnähe entschwunden und zieht weiter durch die dunkle Himmelweite.

Dann beginne ich selbst zu träumen. Wie ein kleiner Nils Holgersson, der auf dem Rücken einer Wildgans durch Schweden fliegt. „Frage doch .. die Vögel unter dem Himmel, die werden dir’s sagen“, lese ich im Buch Hiob.

Selma Lagerlöf lässt den kleinen, frechen 14jährigen Nils als Wichtelmännchen auf dem Gänserich Martin über Schweden hinwegfliegen. Er versteht die Sprache der Tiere, hilft ihnen und erlebt allerlei Abenteuer. Diese Geschichte hat mich seit meinen Kindertagen begleitet. Ein altes, dickes Buch ging in meinem Leben mit, in dem auf 500 Seiten diese Kinderträumerei aufgezeichnet war. In gelbem Leineneinband von 1928. Und so höre ich die Gänse reden. Sie erzählen von der Mitternachtssonne und den taghellen Sommernächten, in denen sie sich fett gefressen haben und von den eisigen Weiten Sibiriens, denen sie zum Winter entfliehen. Sie berichten von den schwarzen Seen und grenzenlosen Wäldern, von den Stromschnellen der Flüsse und üppigen Wiesen. Von einer anderen Welt.
Nur Träumerei? Alles nur Einbildung, auf die Rufe der Gänse zu hören oder dem Schrei der Kraniche zu lauschen? Oder ein Vorgeschmack der Unendlichkeit?

„Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten.“ Ps. 139,9

Gesegnete Herbsttage wünscht
Ihr
Ralf Meister